Am Set der Serie »Kina«: Produziert wird wie am Fließband
In Reportagen, Analysen, Fotos, Videos und Podcasts berichten wir weltweit über soziale Ungerechtigkeiten, gesellschaftliche Entwicklungen und vielversprechende Ansätze für die Lösung globaler Probleme.
Die dunkle Wolke hat sich verzogen, die Sonne scheint plötzlich grell auf die drei Schauspielerinnen und Schauspieler. »Notfall!«, schreit die Produzentin aus 50 Meter Entfernung, »schnell, zieh deine Jacke aus!« Eine Daunenjacke im Sonnenschein, das sähe auf den Aufnahmen später verwirrend aus. Die Angesprochene reagiert prompt, entledigt sich ihrer Jacke, schlendert nun im T-Shirt weiter den Weg entlang.
Der Kameramann ist zufrieden, die Regisseurin auch. Der Take ist im Kasten. Es darf keine Zeit verschwendet werden, jede Minute zählt.
Wie am Fließband produzieren sie hier im Umland von Nairobi eine Serienfolge nach der anderen, im Schnitt eine Episode pro Tag, ein irrsinniger Output. Doch die Nachfrage ist groß, der Streamingdienst Showmax hat schon die nächste Staffel bestellt. Showmax ist so etwas wie das afrikanische Netflix, mit immer neuen lokalen Inhalten sollen die Zuschauerinnen und Zuschauer bei der Stange gehalten werden. Es scheint zu funktionieren.
In der Serie »Kina« legt sich eine Frau aus armen Verhältnissen mit einem reichen Wasserunternehmer an, es ist eine David-gegen-Goliath-Geschichte, ein Kampf um knappe Ressourcen und natürlich um Liebe. Das Originalskript stammt aus Südafrika, dort hatte die Serie bereits großen Erfolg, wie so viele Showmax-Produktionen. »Wir haben die Handlung etwas umgeschrieben und drehen hier neu, damit es sich anfühlt und aussieht wie in Kenia, die Zuschauer sollen sich wiedererkennen«, erzählt Gibson Mithaa, einer der Chefs der Produktionsfirma Zamaradi. Genau darum geht es: Inhalte produzieren, in denen sich die Menschen wiederfinden, zugeschnitten auf die jeweiligen afrikanischen Länder.
Die Szenen in Kina sollen den Alltag der Kenianerinnen und Kenianer widerspiegeln
Gibson Mithaa (r.) ist Finanzchef der Produktionsfirma Zamaradi, er muss mit sehr knappen Budgets kalkulieren
Die Serie wird in einem Dorf etwa 30 Minuten von Nairobi entfernt gedreht, es gibt einen Friseursalon, in dem Haare geflochten werden, eine Bar mit Billardtisch, Szenen aus dem täglichen Leben. Es gibt nicht: Bürgerkriege, brutale Rebellen mit Sonnenbrillen und Sturmgewehren, weiße Retter – also nicht das Hollywood-Afrika. Während in der Kulissenbar gerade eine Szene gedreht wird, in der sich zwei Frauen über die Raffgier eines Pastors streiten, üben die anderen Schauspielerinnen und Schauspieler ihren Text in der Landessprache Kiswahili.
120 Menschen sind an der Produktion beteiligt, jeder Handgriff sitzt, die Abläufe sind perfekt eingeübt. »Wir haben uns sehr professionalisiert, und auch die Zuschauerinnen und Zuschauer erwarten mittlerweile ganz andere Standards«, sagt Gibson Mithaa. Noch vor zehn Jahren liefen auf den großen Fernsehsendern schlecht synchronisierte mexikanische Telenovelas, heute vergleichsweise hochwertig produzierte Serien »made in Kenya«. Gibson Mithaa und sein Team drehen sechs Tage pro Woche, ununterbrochen seit drei Jahren, von sechs Uhr morgens bis in den späten Nachmittag.
Doch das große Geld machen sie noch immer nicht, die Budgets sind knapp, Kredite von der Bank kaum zu bekommen. »Die Politik setzt auf Steine und Zement statt auf die Kreativbranche«, sagt Mithaa. Dabei schafft seine Produktionsfirma mehr Arbeitsplätze als so manche Baufirma.
Einer der Ersten, die das Potenzial in Kenia erkannt haben, war der deutsche Filmemacher Tom Tykwer, Regisseur von »Babylon Berlin« und »Lola rennt«. Vor mehr als zehn Jahren kam er ins Land, um Workshops für Filmschaffende anzubieten. Im Rahmen dieser Kurse entstand »Soulboy«, ein bahnbrechender Spielfilm, fünfmal nominiert für die African Movie Academy Awards. Zwei Jahre später folgte »Nairobi Half Life«, der zahlreiche Preise abräumte. Die Filme lösten einen regelrechten Hype im Land aus, für viele Kenianerinnen und Kenianer war es eine Art Erweckungserlebnis, die eigene Realität auf Leinwand zu sehen – und nicht Bruce Willis, der als Elitesoldat im Dschungel charakterlose Rebellen bekämpft und Sätze sagt wie: »Gott hat Afrika schon lange verlassen.«
»Ich habe ein ungeheures Interesse verspürt, die Geschichten aus der Wahrnehmung der Menschen vor Ort zu erzählen«, sagt Tykwer im Interview mit dem SPIEGEL. »Die schiere Menge an medieninteressierten Menschen auf dem Kontinent ist ein riesiger, ungehobener Schatz. Ich erwarte in den nächsten Jahren einen fundamentalen Durchbruch.« In China gab es eine ähnliche Entwicklung, lokale Produktionen wurden immer beliebter, inzwischen ist der chinesische Filmmarkt einer der größten der Welt.
Im zehnten Stock eines der zahlreichen neu entstandenen Bürogebäude Nairobis sitzt Tosh Gitonga, er ist gerade erst hier eingezogen mit seiner Firma Primary Picture. In dem kargen Großraumbüro steht ein langer Holztisch, daran sitzen Mitarbeiterinnen mit Laptops, es könnte auch in Berlin-Mitte sein. Gitongas Telefon klingelt ununterbrochen, er hat viel zu tun. Der Regisseur war einer der Teilnehmer von Tykwers Workshop, inzwischen gehört er zu den erfolgreichsten Filmemachern der Region.
Regisseur Tosh Gitonga macht inzwischen Serien und Filme für Netflix, der nächste ist bereits in Planung
Gerade hat er bei »Country Queen« Regie geführt, der ersten Netflix-Serie aus Kenia. Der Streamingdienst hat schon den nächsten Spielfilm bestellt, das Vertrauen in den afrikanischen Markt scheint groß. »Es gibt generell eine Re-Afrikanisierung. Ich bin mit US-amerikanischen Klamotten aufgewachsen, heute tragen die jungen Leute einheimische Mode. Es ist eine Revolution, und die Filmbranche ist mittendrin«, sagt Gitonga. »Wenn wir es schaffen, den afrikanischen Markt als Ganzes zu erschließen, dann wird es ein Riesenerfolg«, hofft der Regisseur. Selbst in der Karibik werden die Serien und Filme inzwischen massenhaft abgerufen.
Doch das Geld für die großen Produktionen kommt noch immer von außen, vor allem aus Europa. Deutschland ist einer der größten Sponsoren der kenianischen Filmbranche, auch zahlreiche Nichtregierungsorganisationen beauftragen hochwertig produzierte Kurzfilme. »Impact Films«, Filme mit Wirkung, nennt sich dieses Genre.
Am Rande des Slums Kibera, am Ende einer schmalen Gasse direkt neben einer der größten Grundschulen Nairobis, liegt das Anno’s One Fine Day Center. Im Hinterhof üben Schülerinnen eine Tanzperformance ein, Krysteen Savane macht kurz mit, dann lehnt sie sich an die grün gestrichene Hauswand und schaut zu. Bald wird alles hier abgerissen und ein neues Zentrum gebaut, drei Stockwerke hoch. Mit professionellen Räumen für Tanz, Musik, kreatives Schreiben – und Filmworkshops.
Mit Tanz und Film eine Perspektive bieten: Krysteen Savana (M.) im Anno’s One Fine Day Center in Kibera
Savane leitet das Zentrum, sie ist selbst Schauspielerin und Produzentin, wirkte am Kurzfilm »Watu Wote« mit, der sogar für einen Oscar nominiert war. Als 20-Jährige hat sie mit Straßentheater angefangen, es ging um Themen wie HIV und AIDS, die Stücke hatten eine klare Botschaft. »Die Leute im Publikum haben uns oft gefragt: Warum macht ihr nicht Filme daraus, so könnt ihr noch mehr Menschen erreichen?«, erzählt Savane. Inzwischen hat sie Filme gegen Kinderhandel, gegen politische Gewalt und religiösen Extremismus produziert.
»Wenn wir unsere Geschichten nicht selbst erzählen, kommt jemand von außen und stülpt sie uns über. Aber wir brauchen Kontrolle über unsere Storys«, sagt die Filmproduzentin. Es geht um feine Nuancen, um vielschichtige Charaktere, nicht um das Schwarz-Weiß-Bild eines leidenden Kontinents. Auch wenn es in Savanes Filmen um menschliche und politische Katastrophen geht, sind die Protagonistinnen und Protagonisten nie machtlos, ihrem Schicksal nicht ergeben.
Einer von Savanes Wünschen: Netflix und andere Streamingdienste sollen afrikanische Produktionen auch in Europa und den USA verfügbar machen, damit sie ein internationales Publikum erreichen. Die weißen Retter aus Hollywood, die sich durch den wilden Dschungel Afrikas kämpfen, sie haben ausgedient.
Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.
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Die Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt das Projekt seit 2019 für zunächst drei Jahre mit einer Gesamtsumme von rund 2,3 Mio. Euro – rund 760.000 Euro pro Jahr. 2021 wurde das Projekt zu gleichen Konditionen um knapp dreieinhalb Jahre bis Frühjahr 2025 verlängert.
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Der SPIEGEL hat in den vergangenen Jahren bereits zwei Projekte mit dem European Journalism Centre (EJC) und der Unterstützung der Bill & Melinda Gates Foundation umgesetzt: die »Expedition ÜberMorgen « über globale Nachhaltigkeitsziele sowie das journalistische Flüchtlingsprojekt »The New Arrivals «, in deren Rahmen mehrere preisgekrönte Multimedia-Reportagen zu den Themen Migration und Flucht entstanden sind.
Die Stücke sind beim SPIEGEL zu finden auf der Themenseite Globale Gesellschaft .
Am Set der Serie »Kina«: Produziert wird wie am Fließband
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Regisseur Tosh Gitonga macht inzwischen Serien und Filme für Netflix, der nächste ist bereits in Planung
Mit Tanz und Film eine Perspektive bieten: Krysteen Savana (M.) im Anno’s One Fine Day Center in Kibera
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